„ÄTSCH, ÄTSCH, EUCH HAT KEIN AUTO ÜBERFAHREN!“

Das Leben des Budapester Teenagers Zoltán Zemlényi dreht sich am Ende des Jahres 1986 um die Band KISS, seinen besten Freund Fesoh, die unglückliche Schwärmerei für eine Freundin namens „Eri“ und die Angst vor anstehenden Mathearbeiten in der Schule. Er nervt seine Eltern mit dem Drängen nach Kiss-Postern und anderen Band-Devotionalien, die im damals noch sozialistischen Ungarn nicht gerade leicht aufzutreiben waren. Spitzbübisch genießt er es, heimlich Sexmagazine durchzublättern, und seine Sicht auf Gott und die Welt ist geprägt von spöttischer Ironie sowie frühreifer Nachdenklichkeit.

Ein ganz normales Teenagerdasein - möchte man glauben, wenn da nicht die Tatsache wäre, dass der Leser all das nur erfährt, weil es eine Schreibmaschine im Hause Zemlény gibt, auf welcher der zu diesem Zeitpunkt teilweise noch stark motorisch gelähmte und in der Funktion des Sprechens eingeschränkte Sechzehnjährige seine Erfahrungen und Eindrücke festhalten kann. Die vorliegenden Aufzeichnungen sind daher doppelt interessant zu nennen, da sie nicht nur die alltäglichen Empfindungen eines Teenagers sondern auch die bewegende Krankengeschichte eines Halbwüchsigen widerspiegeln, der nach einem schweren Autounfall aus dem Koma erwacht und lernen muss, sich die Welt in seinem zweiten, seinem „geschenkten“ Leben mit Hilfe von Familie und Freunden, aber auch unter Anleitung von Ärzten, Pflegern und Krankenschwestern zurück zu erobern.

Am 7. März 1985 ist Zoltán Zemlényi fünfzehn Jahre alt, vierfacher ungarischer Kanu-Landesmeister, intellektuell gebildet, ein guter Zeichner und durchaus leichtsinnig, wie so viele seiner Altersgenossen in der Teenagerphase ihres Lebens. Eine rote Ampel an der Kreuzung Lenin-Ring/ Platz des 7. November in Budapest wird ihm an diesem Tag zum Verhängnis und, obwohl man kaum glauben mag, dass ein Exemplar der inzwischen nahezu von den Straßen verschwundenen Marke „Trabant“ solchen Schaden anrichten könnte, ist es dennoch Tatsache und im Unfallprotokoll festgehalten, dass ein solches Fahrzeug den Jungen erfasste, fünf Meter durch die Luft schleuderte und ihn mit „Verletzungen mit einer Heilungsdauer von mehr als 8 Tagen“ auf dem Gehweg aufschlagen ließ. „Am PKW entstand Sachschaden."

Soviel zum nüchternen Unfallprotokoll nachzulesen auf den ersten Seiten von Zoltáns tagebuchähnlichen Aufzeichnungen, die 1987 unter dem Namen „Hopparesimi“ in Ungarn publiziert wurden und einschlugen wie eine Bombe. Innerhalb von vier Tagen war die erste Ausgabe des Buches (immerhin 200.000 Exemplare) vergriffen. Der zweiten Ausgabe erging es nicht besser: bereits nach wenigen Wochen war sie aus den Buchläden verschwunden – ebenso aus den Bibliotheken, wo das Buch auch nach Ende der Leihfrist nicht wieder aufzutauchen pflegte. Im Zuge einer Verfilmung seiner Geschichte, gewann der junge Autor den „Niveaupreis“ des ungarischen Fernsehens, welcher eine der höchsten Auszeichnungen für einen Künstler auf dem Gebiet Literatur, Theater und Filmkunst in Ungarn darstellt. Mit 24 Jahren wurde er in den renommierten PEN-Club aufgenommen und ein durch seine Geschichte inspiriertes Theaterstück wurde über viele Jahre hindurch im Madách-Kamera-Theater in Budapest aufgeführt – kurz: Der „Harry Potter“-Hype ist nichts dagegen!

Dennoch sind es weder die Unfallgeschichte noch die Geschehnisse um das Buch herum, die den durchschnittlichen, medizinisch nicht vorgebildeten Leser dazu verleiten, gebannt Seite um Seite zu verschlingen, wenn man sich eingelesen hat. Es liegt vielmehr an der Erzählweise des Autors. Stets bewegt sich diese zwischen dem (Über)Mut des Verzweifelten und der Verzweiflung hin und her. Jede Operation der verkrüppelten Gliedmaßen wird als Chance auf einen Schritt nach vorn empfunden und dennoch so lange am Erfolg gezweifelt, bis das Ergebnis am Patienten Zoltán Zemlényi sichtbar und der Mensch Zoltán Zemlényi sich des Erfolgs der Behandlung sicher sein kann. An jeder Stelle des Buches wird deutlich, dass er keinen Wert auf Mitleidsbekundungen legt. Stattdessen ist er auf der Suche nach intellektuellem Austausch, ehrlichem Verständnis und einer liebevollen Partnerschaft – auch und gerade im Hinblick auf Mädchen.

Bei dieser Suche helfen ihm nicht nur sein Freund Fesoh, der auch gelegentlich mit einer seiner Freundinnen oder potenziellen Liebschaften bei Zoltán vorbei schaut sowie dessen Verbindung zur „alten Schulklasse“ und der Welt der Jugendlichen draußen, außerhalb von Zoltáns Wohnung und den medizinischen Facheinrichtungen darstellt. Auch Zeichentalent, Witz und Sarkasmus helfen dem Jungen, die Situation erträglich zu finden. Gelegentlich vergisst der Leser sogar die schwere Behinderung des Autors, wenn dieser z.B. an seinem sechzehnten Geburtstag berichtet, „daß Zoltan Zemlényi entgegen allen möglichen Gerüchten SEIN 16. LEBENSJAHR DOCH ERLEBT HAT!“ oder, wenn er darüber schreibt, dass sein Unfallhergang neu bewertet und die Schuldfrage zu seinen Gunsten geklärt wurde, was es der Familie nun ermöglicht, das Geld von der Unfallversicherung in einen Kleingarten zu investieren. Da wird aus dem „Krüppel“ und seiner Familie wieder die Durchschnittsfamilie aus dem „Osten“ mit durchschnittlichen „Ostträumen“ und „Osterfahrungen“, zu denen mit Sicherheit auch der Traum von einer Laube im Grünen oder der Schmuggel mit „Westheften“ wie der BRAVO gehören. In solchen Momenten erscheint der Autor als ein zweiter Till Eulenspiegel, der mit seinen Scherzen allen den Spiegel vorhält. Doch dann wieder betrachtet Zoltán seine Situation so klar, nüchtern und ohne Ironie, dass man erschüttert ist, wenn man sich der Tragweite seiner Worte und ihrer Bedeutung bewusst wird: „Halten wir fest, daß ich immer noch nicht laufen kann. [...] Jetzt ist es nicht mehr so, daß ich jedesmal hinfalle, aber es wäre gut, wenn ich das normale Niveau bis zum Jahresende erreichen könnte. [...] Man kann schon Unterschiede zwischen dem Gehen und den ‚übrigen Bewegungen’ feststellen...“.

Angesichts von Textpassagen wie diesen beginnt man zu erahnen, was es heißt, wenn der Fachjargon von einer „Schädigung des extra-pyramidalen Systems“ eines Menschen spricht. Aus dem Koma erwacht kann Zoltán seine Gliedmaßen nur unter großen Mühen bewegen. Vom Gehen ist er zunächst meilenweit entfernt und mit den Händen gelingen ihm zu diesem Zeitpunkt lediglich hektisch-zappelige Gesten. Aus der ebenfalls nicht mehr steuerbaren Gesichtsmuskulatur resultiert ein dümmlicher Ausdruck in Zoltáns Zügen, so dass man nicht feststellen kann, inwieweit noch Verstand in dem Jungen vorhanden ist. Aus seinem Mund kommen nur bizarre Laute, die zur verbalen Kommunikation kaum geeignet sind. Aber Zoltáns Denkvermögen funktioniert noch ebenso gut wie vor dem Unfall. Selbst den Ärzten erscheint es wie ein Wunder, dass man einen solchen Unfall überleben kann ohne, dass eine Verletzung des Gehirns auftritt. Bis diese Tatsache jedoch in Ermangelung der Möglichkeit des Einsatzes der Mund-, Zungen- und Rachenmuskulatur oder von gezielten Handbewegungen mit Hilfe der o.g. Schreibmaschine und später auf einem Computer zur (Er)Kenntnis gebracht werden kann, vergeht ein langer Zeitraum, welchen der Junge gelegentlich lapidar als seine vergangene „Idioten-Epoche“ abtut, was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass es weh tut, „daß mich [auch noch ein Jahr später, A.d.V.] jeder für einen Idioten hält. [...] Er sprach über mich, als ob ich ... als ob ich, weißnichtwas, gar nicht dort sei oder nichts verstehen würde [...]“.

Aus dieser Diskrepanz entsteht neben dem gelegentlich auftretenden Generationskonflikt zwischen Zoltán und seinen Eltern (z.B. den unterschiedlichen Musikgeschmack betreffend) der weit größere und rührendere Konflikt in diesen Aufzeichnungen: Während die unmittelbare Umgebung den Jungen als intelligenten Menschen wahrnimmt, wird er von außen meist von oben herab als kleines Dummchen behandelt. Seine körperliche Behinderung wird grundlos auf seinen Geisteszustand übertragen. So erscheinen auch vermeintlich nette Gesten wie besonders langsames und betontes Sprechen als Herablassung. Doch bevor sich Zoltàn so richtig in Selbstmitleid zu wälzen beginnen kann, helfen ihm Ironie und beißender Spott dabei, das Leben und seine Situation zu akzeptieren, wie sie sind: „Er [Fesoh, A.d.V.] hat recht, ich habe mehr Glück als er. Mein Leben ist voller Abwechslung! Ich mußte 15 Jahre lang warten, bis mich ENDLICH ein elendes Auto überfährt! [...] Dadurch, daß mich ein Auto überfahren hat, bin ich tatsächlich anders geworden als der Durchschnitt. Ich kann von mir sagen: ÄTSCH, ÄTSCH, EUCH HAT KEIN AUTO ÜBERFHAREN! Ich könnte es sagen, aber ich kann den Laut ‚TSCH’ nicht aussprechen.“ Diese Sichtweise der Dinge macht das Tagebuch so erfrischend anders.

Der Leser hat es hier trotz gelegentlicher Ausflüge in Liebesangelegenheiten wie den ersten Kuss und die erste Enttäuschung nicht mit den schwärmerischen Aufzeichnungen in der Tradition des Backfischromans zu tun. Vielmehr zeugen die 300 Seiten von der reifen Haltung des Jugendlichen und dem unbändigen Willen, sein Schicksal selbst lenken zu wollen, die Situation nicht einfach hinzunehmen, sondern mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln dafür zu kämpfen, eines Tages wieder ein weitgehend selbst bestimmtes Leben in Unabhängigkeit führen zu können – sei es motiviert durch schweißtreibende, aber nach und nach Erfolge bringende therapeutische Übungen und Operationen, oder auch nur durch Trotz: „Ich war nicht bewegungsgeschädigt, ich bin es nicht und werde es auch nicht sein! [...] Ich will es nicht sein!“ Diese kämpferische Haltung dem Leben gegenüber kann Zoltán ohne ein Quäntchen Egoismus und Selbstüberschätzung natürlich nicht einnehmen. Solchermaßen trifft es ihn z.B. hart, als ihm plötzlich bewusst wird, dass sich seine Lieblingstherapeutin nicht mit ihm beschäftigt, weil sie ihn mag, sondern weil es ihr Job ist und sie dafür bezahlt wird. In solchen Momenten muss er erkennen, dass sich die Welt nicht nur um ihn dreht, und die ihn umgebenden Menschen auch ein eigenes Leben führen.

Angesichts solch kindlicher Selbstüberschätzung, die auf der anderen Seite von großer Reife zeugenden universalen Erkenntnissen gegenübersteht, wie sie auch in seinen Äußerungen zur Religion deutlich werden („Jeder glaubt an das, was ihm gut tut.“), stellt sich die Frage nach der Authentizität dieser Tagebuchaufzeichnungen. Für den Lesegenuss ist diese Frage wahrscheinlich nebensächlich. Dennoch weiß der Autor bereits während des Schreibens, dass sein Tagebuch gelesen werden wird. Ärzte lesen darin. Seine Familie liest es. Auch Bekannten gibt er die Aufzeichnungen zu lesen, wenn er möchte, dass diese sein „wahres Ich“ hinter der bewegungsarmen Maske erkennen und zu Freunden werden sollen. Wie ehrlich sich selbst und anderen gegenüber kann eine Person in dem Bewusstsein schreiben, dass die Lesenden gelegentlich „alles missverstehen, alles überbewerten, falsch interpretieren und verkehrt auslegen“? Diese Frage kann sicherlich nur der Autor selbst beantworten.

Zoltán Zemlényi ist inzwischen erwachsen geworden und hat zwei kleine Söhne. Heute leistet er vor allem in Schulen aktiv Aufklärungsarbeit, was die Akzeptanz von Behinderungen und den Umgang mit Werten in unserer Gesellschaft betrifft. Sein Buch ist in Ungarn inzwischen zur Pflichtlektüre an Schulen für medizinisch-pflegerische Berufe erklärt worden. In Deutschland hat man es vor allem dem privaten Engagement der beiden Übersetzerinnen Gizella und Sandra Hemmer zu verdanken, dass Zoltáns Buch erscheinen konnte, denn die Aufzeichnungen sind nicht nur durch das ungewöhnliche Schicksal des Autors zu etwas Besonderem geworden. Auch sein ungewöhnlicher Schreibstil trägt wesentlich zum Lesegenuss bei. Angesichts von Wortspielen wie „Blechboy“ (Playboy) oder „Könnnig“ (König/ können) sowie eingearbeiteten Anglizismen á la „skool“ oder „olraijt“, versteht man gut, warum ein Titel wie „Hopparesimi“ unübersetzt bleiben musste: Ausdrücke wie dieser sind lautmalerische Wortschöpfungen des Autors, der an einer Stelle seiner Aufzeichnungen erklärt, dass eine Situation noch „milde ausgedrückt“ wäre, wenn er „Hopparesimi“ sagen würde, und sogar „schöne Scheiße“ dafür noch untertrieben wäre.

Doch das Buch bietet nicht nur Raum für medizinische Analysen oder Diskussionen hinsichtlich der Arbeit von Übersetzern. Es eröffnet vielmehr ein Universum an Problematiken, über die man im Grunde bei jedem guten Buch nachdenken könnte. Hier jedoch wird man hineingezogen in die Auseinandersetzung des Autors mit den einzelnen Themen – so auch mit dem Thema „Sprache“ oder auch „Sprechvermögen“.

Als Zoltán merkt, dass ihm eine deutliche Artikulation zunächst verwehrt bleibt, ist es nicht nur das rein medizinische Unvermögen, welches ihn nicht sprechen lässt. Es steckt auch eine gute Portion Eitelkeit hinter dem Beschluss, erst wieder zu sprechen, wenn es bereits gut klappt. Nur zu Hause übt er sich darin, weil man ihn dort kennt und, weil er den Eltern und Freunden genug vertraut, um sicher gehen zu können, dass er sich vor ihnen nicht lächerlich macht. Man wirkt eben „bekloppt“, wenn man nicht richtig sprechen kann. Alle Intelligenz nützt nichts, wenn man sich den Menschen nicht auf allgemein verständliche Weise mitteilen kann. Abgesehen von der Tatsache, wie armselig der Mensch gelegentlich im Verteilen seiner Sympathie reagiert, erkennt man hier deutlich, welch ein wichtiges äußeres Merkmal die Sprache in unserer Gesellschaft geworden ist. Das fängt heute beim Beherrschen der Muttersprache an und setzt sich im Erlernen von Fremdsprachen fort. Jeder der einmal mit sprachlichen Grundkenntnissen in einem fremden Land auf sich allein gestellt war, dürfte heute nachvollziehen können, wie es ist, wenn man vor sich hinstottert aber wenigstens noch Hände und Füße zur Hilfe nehmen kann, um sich verständlich zu machen. Und jeder hat wohl schon einmal das (Hoch)Gefühl erfahren, als er sich zum ersten Mal in einer fremden Sprache wirklich verständlich machen konnte. Diese, die sprachliche Dimension des Buches und der Behinderung des Autors kann man daher mit ein wenig menschlichem Einfühlungsvermögen am ehesten nachvollziehen.

Doch auch im Sinne des Vorwortes von Dr. Endre Csanda, dem Direktor der Neurologischen Klinik der Semmelweis-Universität für Medizin besitzt dieses Buch in literarischer Hinsicht Seltenheitswert: „Es ist schon sehr ungewöhnlich, dass jemand im Alter von sechzehn Jahren ein von reifer Weltanschauung zeugendes Tagebuch schreibt, aber dass dieses Tagebuch ein Mensch verfasst hat, dessen Nervensystem infolge eines Unfalles schwer geschädigt wurde, ist geradezu außergewöhnlich.“ Diesen Worten kann sich die Rezensentin nur anschließen. ...und auch den Worten des Autors in seinem Buch: „Das habe ich nicht nötig, daß ich regelrecht darum betteln muß, daß man meine Diaries [Tagebücher, A.d.V.] auch liest. Wem es nicht schmeckt, der soll’s eben bleiben lassen.“

Sicherlich, der Buchmarkt quillt über und man kann nicht alles lesen; aber Hunderttausende Ungarn können nicht irren. Meinen Anteil an Überzeugungsarbeit habe ich hiermit geleistet.

©corinna hein für literaturreport.com